Heilige Nacht

für Michael (und alle anderen Bratschen)

Gebt Acht, gebt Acht, die Glocken, sie klingen.
Hört, welch freudige Botschaft sie bringen:

Sie läuten uns zur heiligen Nacht,
die Lichter sind schon hell entfacht.

Die Leute strömen in den Saal,
nur seliges Lächeln allüberall.

Da sieht man Kindlein mit glänzendem Blick
und Liebende in trautem Glück

Doch vorne, am Altar bereit,
die Musiker in sanftem Streit.

Denn schließlich hat man ausgemacht:
Heut wird die Bratsche umgebracht!

Denn immer stört den heiligen Sang
der Bratsche übler Misseklang!

Doch wann den Mord? Beim Sanktusspiel?
Ein Bratschenton scheint schon zuviel.

Auch wie, so tun sich alle fragen,
sollt' man sie in den Himmel jagen?

(Im Himmel kommt sie doch nie an,
der ist zu hoch, sie kommt nicht dran!)

Die Oboe schlägt vor, man sollt' sie erschießen,
das Cello meint, es reicht sie zu spießen.

Ein lauter Knall, wenn alles singt,
schließlich nur Ruhestörung bringt!

„Man spieße sie direkt in den Bauch!“
Der Bass sagt: „In den Hals tut's auch!“

„Doch“, fragt da zweifelnd der Cornut,
„was macht man mit dem ganzen Blut?“

Und somit kommt man überein:
Mord durch Erstechen kann's nicht sein.

Das Gift wird einheitlich verschmäht,
denn dafür ist es schon zu spät.

Woher kriegt man das Gift jetzt her,
der Priester kommt, das klappt nicht mehr!

Und da erscheint der Dirigent,
die Zeit für unsre Planer rennt.

Schon klingt der erste Ton, oh je-
da kommt die rettende Idee!

Die Geige ruft: „oh welch ein Glück,
fünf Kreuze sind's im letzten Stück,
das bricht der Bratsche das Genick!“

Und alles wartet, freudig erregt,
darauf, dass die Bratsche sich niederlegt.

Doch, Wunder gibt es immer wieder,
die Bratsche senkt nur kurz die Lieder

und spielt und gewinnt damit das Gefecht,
das ganze Stück (mehr schlecht als recht).

Wie ist die Enttäuschung am Ende groß,
man wollte die Bratsche doch werden los!

Mit einem Seufzen steht man auf,
verlässt den Saal in schnellem Lauf.

Die Bratsche geht, wie stets zum Schluss,
da tönt ein Knall, fast wie ein Schuss!

Man schaut und preist die stille Nacht,
sie hat sich selber umgebracht.

Da liegt die Bratsche auf dem Grund,
sie stolperte, fiel auf den Mund.

So starb sie sanft und ohne Qual;
und man verlässt den hohen Saal.

doch schließlich, auf verschneiten Wegen,
beginnt sich endlich was zu regen!

Ein jeder ging bereits ein Stück
und kehrt nun doppelt schnell zurück.

Man findet sich so wieder ein;
umsteht die Bratsche in ihrer Pein.

Und was sich da regt, das nagt nun beflissen,
es ist von ein jedem das schlechte Gewissen.

Was hat man nur in blindem Wahn
der armen Bratsche angetan?

Ja, man bereut die arge List,
da man die Tote bald vermisst.

Denn im gemeinschaftlichen Spiel,
verdankte man der Bratsche viel.

Sie alle wissen zu berichten,
der Bratsche Lobhymnengeschichten:

Wenn jemand etwas falsch gemacht,
hat man die Bratsche ausgelacht;

und wenn sie alle mal verpennten,
die Taktauskunft des Dirigenten,

wer traute sich's da nachzufragen?
Die Bratsche war's! Tat's ohn' Verzagen.

So oft man blöde Witze machte,
die Bratsche war's die trotzdem lachte.

Und es wird deutlich, immer mehr,
der Geist der Bratsche fehlt doch sehr!

Sie war der BH im Orchester drin
und ohne ist der Zauber hin!

Doch man merkt schnell: nun ist es zu spät,
und grausam droht die Realität.

Man wendet sich ab und seufzt: „oh je!“
Da hört man von hinten: „Au! Das tat weh!

Das war mal wieder typisch Bratsche,
wie ich hier durch die Kirche latsche!

Ja lacht mich nur aus, ich nehm's Euch nicht krumm;
wer ist schon so blöd und fällt einfach um?!“

Doch weit gefehlt, von Spott keine Spur!
Das Orchester staunt und freut sich nur.

Man greift der Bratsche sanft unter den Arm:
„Jetzt auf in die Kneipe, denn da ist es warm!“

Und wahrhaftig: jeder konnt' es sehen,
ein echtes Wunder ward geschehen!

Die Kirche bleibt nun leer zurück.
Doch halt! Es weht ein Hauch von Glück!

Die Tür wird schließlich zugemacht,
endlich herrscht Frieden - Heilige Nacht!